Das osteuropäische München in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg

Das osteuropäische München in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg

Organisatoren
Felix Jeschke, Ludwig-Maximilians-Universität München; Hannah Maischein, Münchner Stadtmuseum; Jutta Fleckenstein, Jüdisches Museum München; Anke Stephan, München
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2022 - 07.10.2022
Von
Matthias Melcher, Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Vom 5. bis 7. Oktober 2022 trafen sich Vertreter:innen von Museen, Universitäten, Bibliotheken und Archiven für einen intensiven Austausch über die Geschichte des osteuropäischen1 Münchens im Saal des Münchner Stadtmuseum. Dort hatte 1995 bereits die bis dato erste internationale Konferenz zu jüdischen Displaced Persons (DPs) stattgefunden2, sodass auch lokal an bereits bestehende Kooperationen zwischen den Veranstaltern angeknüpft werden konnte.

Gemäß dem Titel der Tagung stand nicht nur die direkte Nachkriegszeit, sondern auch die Zeit des Kalten Krieges im Mittelpunkt der Tagung. Bei ihrer Analyse nutzten die Referent:innen eine migrationsgeschichtliche Perspektive unter der unterschiedliche migrantische Gruppen subsummiert wurden: von DPs und Vertriebenen bis zu antikommunistischen Dissident:innen und Gastarbeiter:innen. Zentral verhandelten die Referent:innen und das überschaubare aber überaus aktive Publikum vor allem die Fragen nach der (tatsächlichen und vorgestellten) Eingebundenheit von Displaced Persons im München der Nachkriegszeit sowie ihre Selbstwahrnehmung dieser Zeit. Hier changierten die Sichtweisen der betreffenden Zeit vom fremdbestimmten „Wartesaal“ bis zur „Sprungfeder“ oder „Inkubationskammer“ für zukünftige Aktivitäten.

In ihren Grußworten betonten FRAUKE VON DER HAAR (München), MARTIN SCHULZE WESSEL (München) und ULRIKE HEIKAUS (München) die Synergieeffekte einer Kooperation von Museen und Universitäten als unterschiedlichen Orten der Wissensvermittlung. Die Synergien – aber auch die Herausforderungen, die sie mitbringen – zeigten sich auch im Lauf der Tagung. Denn hier trafen sich geschichtswissenschaftlich-akademische Panels mit einer Ausstellungsführung, eine studentische Projektpräsentation mit redseligen Zeitzeugen und ausgefeilte wissenschaftliche Vorträge mit lapidar vorgetragenen Alltagsbeobachtungen. Das ist anstrengend, aber auch fruchtbar, wenngleich eine beherzte Moderation, die mit diesen unterschiedlichen Perspektiven arbeitet und sie einfängt, der Tagung sicherlich gutgetan hätte. Aber auch ohne die angemahnte Zusammenschau boten die einzelnen Beiträge Einblicke in ein Forschungsfeld, auf dem sich in letzter Zeit einiges tut.

KATERYNA KOBCHENKO (Münster) bezeichnete die DP-Zeit in ihrer Keynote als „Kapitel der transnationalen Geschichte Europas“ und führte ihre Überlegungen am Beispiel ukrainischer DPs aus. Dabei sei diese Phase als „Sprungfeder“ für die weitere Nachkriegszeit zu sehen, was sie unter anderem an den zahlreichen kulturellen Aktivitäten der DPs festmachte. Für die ukrainischen DPs kann die DP-Zeit als Möglichkeit zur Schaffung einer neuen und freien Ukraine jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs gesehen werden. Als Sinnbild dieses Vorhabens kann die Ukrainische Freie Universität gelten, die PETER HILKES (München) thematisierte. Bereits 1921 in Wien gegründet wurde die Universität nach einer Zwischenstation in Prag 1945 in München neu aufgebaut und beherbergt ein umfangreiches Archiv ukrainischer DP-Publikationen. MARIA KOVALCHUK (München) widmete sich ebenfalls der ukrainischen DP-Community, wobei sie auch Parallelen zwischen der Nachkriegszeit und den Geflüchteten aus der Ukraine nach dem 24. Februar 2022 zog. Sie beschrieb DP-Lager als „Laboratorien der Zivilgesellschaft“ und machte vor allem die Rolle von geflüchteten Frauen – z.B. im Rahmen der Ukrainian Women Organization – stark.

Neben ukrainischen DPs standen auch Displaced Persons aus dem Baltikum im Fokus der Tagung. MARCUS VELKE-SCHMIDT (Köln / Bonn) ging auf die Bedeutung der DP-Zeit für das estnische Nation Building ein. In deutschen DP-Lagern wurde beispielsweise auch an die Tradition estnischer Nationalspiele, das heißt sportlicher Wettkämpfe, angeknüpft, die in zeitgenössischen Publikationen ausführlich dokumentiert sind. Auf die zahlenmäßig größte DP-Gruppe aus dem Baltikum ging PAULA OPPERMANN (München) ein: Sie fokussierte in ihrem Vortrag auf das Zentralkomitee der Letten in Bayern, das sich formell als Unterorganisation des Lettischen Nationalkomitees um lettische DPs in Bayern kümmerte. Zentral bei den Bemühungen des Komitees war es, die lettische DP-Community als Einheit zu präsentieren, was die Referentin gekonnt dekonstruierte. So gab es zwischen jüdischen und nicht-jüdischen lettischen DPs durchaus Differenzen, was auch in der Zusammensetzung des Vorstands des Zentralkomitees der Letten in Bayern deutlich wird: hier mussten Opfer des NS mit Kollaborateuren zusammenarbeiten.

Bei der Beschäftigung mit jüdischen DPs in der Münchner Stadtgeschichte stand die zentrale Frage im Raum, inwieweit diese Bevölkerungsgruppe in die Gesellschaft integriert war, bzw. als integriert wahrgenommen wurde. ANNA HOLIAN (Tempe, Arizona) betonte lokale Verknüpfungen gewerbetreibender jüdischer DPs in der Münchner Möhlstraße, die in öffentlicher Meinung und Forschung bislang hauptsächlich als Schwarzmarkt bekannt war. Das Label „Schwarzmarkt“ sei durch deutsche Unternehmen befeuert wurden, um die neu- oder wiedergegründeten DP-Unternehmen zu diskreditieren. Für die jüdische DP-Community als solche war nach KATARZYNA PERSON (Warschau) auch die Praxis der Ehrengerichte identitätsbildend, wobei auch andere DP-Communities vergleichbare Verfahren anstrengten. Den Angeklagten wurde in diesem Kontext unter anderem Kollaboration mit dem NS-Regime vorgeworfen, im Falle eines Schuldspruchs wurden die Fälle dann an die lokalen Gerichte verwiesen und die Betroffenen aus der Gemeinschaft der jüdischen Shoa-Überlebenden, der She‘erit Hapletah, verstoßen.

Die beschriebenen Forschungen zu unterschiedlichen DP-Communities warfen bereits Schlaglichter auf die großen verfügbaren Quellenbestände. Wie diese systematisch erschlossen wurden und werden, erläuterte GUDRUN WIRTZ (München) am Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek detailliert. AXEL DOSSMANN (Berlin / Jena) wies neben schriftlichen Quellen auch auf die Audiointerviews von David P. Boder als Quellen hin und ANDREAS HEUSLER (München) empfahl für zukünftige Forschungsprojekte einen Blick in kommunale Archive. Auch individuelle Lebensläufe ehemaliger KZ-Häftlinge können als Anknüpfungspunkte für die Erforschung allgemeiner geschichtlicher Zusammenhänge dienen, wie ANDRÉ SCHARF (Dachau) ausführte.

Dass neben textuellen Quellen auch Orte eine besondere Bedeutung für die wissenschaftliche Arbeit mit und gesellschaftliche Aufarbeitung von DP- und Nachkriegszeit haben, zeigte die Tagung eindrücklich. So stellte CHRISTIAN HÖSCHLER (Bad Arolsen) Überlegungen zum „Umgang mit unbegleiteten DP-Kindern“ im Bad Aibling Children’s village vor. Die Gesetzgebung der US-Amerikanischen Behörden hinterlässt dabei einen ambivalenten Eindruck. Denn die rechtlichen Verfahren – wenngleich sie das Kindeswohl als Priorität hatten – stellten eine enorme psychische Belastung für die insgesamt ca. 2.300 Bewohner:innen des Children’s village dar. PIRITTA KLEINER (Friedland) thematisierte die vielfache Nutzung des ehemaligen KZ-Außenlagers Allach und hob dabei besonders auf die Nutzung des Geländes als Bundesauswandererlager ab. Am historischen Ort des Attentats auf die Radiosender Radio Free Europe (RFE) und Radio Liberty (RL) in der Münchner Oettingenstraße stellten FRANZISKA KOKORSCH (München) und NADIYA REDKO (München) die Ergebnisse des studentischen Projektkurses „Kalter Krieg: Tatort München“ vor. Die Studierenden des Masterstudiengangs Osteuropastudien erarbeiteten eine hörenswerte Audio-Tour entlang Orten von (Mord-)Anschlägen, die vom KGB und anderen Geheimdiensten der Staaten des Warschauer Pakts in München verübt wurden.

ANNA BISCHOF (München) erläuterte thematisch an die Audio-Tour anschließend in ihrem Vortrag die Geschichte von RFE und RL und ging dabei sowohl auf Konflikte als auch auf Zusammenarbeit zwischen den Radiosendern und der Stadt München ein. Mit der Tolstoy Foundation thematisierte VITALIJ FASTOVSKIJ (Münster) einen weiteren Akteur des Kalten Kriegs, der in München aktiv war. Diese ist durchaus ambivalent zu betrachten, da sie sowohl migrantische Selbstorganisation als auch „Clearing House“ bei der Überprüfung von DP-Anträgen für US-Behörden war. Für ein besseres Verständnis von Migrationsbewegungen in der Nachkriegszeit bieten ihre Akten jedoch bislang nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten. Einen weiteren Aspekt der Migration während des Kalten Kriegs ergänzte KAROLINA NOVINŠĆAK KÖLKER (München), indem sie die „jugoslawischen Sonderwege“ von der frühen Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre erörterte. Anhand dreier exemplarischer Biografien unterstrich sie die Bedeutung, die Nachkriegszeit im Lichte transnationaler migrantischer Beziehungsgeschichte zu erforschen. Auf München als Standpunkt der Osteuropaforschung ging TOBIAS WEGER (München) am Beispiel des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) ein. In einem größer angelegten Forschungsprojekt zur Institutsgeschichte sollen über die im Vortrag thematisierten Netzwerke des Gründers des Südostdeutschen Kulturwerks Fritz Valjavec hinaus weitere Biografien und personelle Kontinuitäten aufgearbeitet werden.

Abschließend klären konnte die Tagung nicht, inwieweit Migrant:innen im München der Nachkriegszeit ihre Geschicke selbstbestimmt gestalten konnten oder doch untätig im „Wartesaal“ verharren mussten. Die vorgestellten Projekte deuteten jedoch bereits an, dass weitere Forschungsprojekte mit neuen Quellen ein besseres Verständnis der diversen Aktivitäten von DPs und anderen Migrant:innen im München der Nachkriegszeit zeichnen könnten. Besonders die Zusammenarbeit der Veranstalter mit unterschiedlichen Hintergründen aus Forschung und Vermittlung ist wegweisend, weitere Kooperationen sind bereits in Planung. Wenngleich im ersten Anlauf noch nicht alles perfekt geklappt hat, darf man sehr gespannt sein, auf die Eier, die diese Wollmilchsau noch legt.

Konferenzübersicht:

Hannah Maischein (München): Führung durch die Ausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“

Martin Schulze Wessel (München) / Frauke von der Haar (München) / Ulrike Heikaus (München): Begrüßung

Kateryna Kobchenko (Münster): Die DP-Zeit als Kapitel der transnationalen Geschichte Europas am Fallbeispiel ukrainischer Displaced Persons

Anke Stephan (München), Ulrike Heikaus (München), Hannah Maischein (München): Einführung und Bestandsaufnahme aus musealer Perspektive

Panel 1: Quellen der DP-Geschichte in München
Moderation und Kommentar: Gerhard Fürmetz (München)

Andreas Heusler (München): Displaced Persons in der Münchner Nachkriegsgesellschaft. Forschungsstand, Quellen, Perspektiven – ein Überblick

Axel Doßmann (Berlin / Jena): Vielstimmige Differenz. Münchner Displaced Persons in Interviews mit David P. Boder im Sommer 1946

Vitalij Fastovskij (Münster): Humanitäre Hilfe im Kalten Krieg. Die Unterstützung von Displaced Persons und Flüchtlingen durch die Tolstoy Foundation (1949-1989)

Gudrun Wirtz (München): Displaced-Persons-Publikationen aus München und Umgebung (1945-1951)

Panel 2: Nichtjüdische DPs in der Münchner Stadtgesellschaft
Moderation und Kommentar: Hannah Maischein (München)

André Scharf (Dachau): „Bleib du hier. Arbeiten kannst du“ – Lebenswege ehemaliger Häftlinge des KL Dachau in München

Marcus Velke-Schmidt (Köln/Bonn): Baltische Displaced Persons und „heimatlose Ausländer“ in Bayern und München – eine Bestandsaufnahme

Maria Kovalchuk (München): Displaced Ukrainians and Civic Structures

Panel 3: Orte der Migration in der Münchner Nachkriegszeit
Moderation und Kommentar: Zuzana Jürgens (München)

Christian Höschler: „Now that the ‘cold war’ has become hot…”: Der Umgang mit unbegleiteten DP-Kindern zwischen München und Bad Aibling, 1950-1951

Piritta Kleiner (Friedland): Vergessene Orte der Münchner Nachkriegsgeschichte: das Bundesauswandererlager auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers Allach

Panel 4: Jüdische DPs in der Münchner Stadtgesellschaft
Moderation und Kommentar: Juliane Wetzel (Berlin)

Anna Holian (Tempe, Arizona): Setting Up Shop in Postwar Munich. Polish Jewish Livelihoods between Continuity and Rupture

Katarzyna Person (Warschau): The Practices of Honor Courts and the Communal Life of Jewish DPs in the Munich Area

Franziska Kokorsch (München) / Nadiya Redko (München): Präsentation des Projektkurses des Elitestudiengangs Osteuropastudien: Kalter Krieg. Tatort München

Panel 5: München als Schauplatz des Kalten Kriegs
Moderation und Kommentar: Anke Stephan (München)

Paula Oppermann (München): Imagined Community im Kalten Krieg? Das Zentralkomitee der Letten in Bayern und die lettischen Flüchtlinge in München

Karolina Novinšćak Kölker (München): Auf jugoslawischen Sonderwegen: Von DPs zu Exilant:innen und Gastarbeiter:innen in München

Anna Bischof (München): Kalter Krieg im Äther. Radio Free Europe und Radio Liberty in München

Panel 6: München als Standort der Osteuropaforschung
Moderation und Kommentar: Felix Jeschke (München)

Tobias Weger (München): München und die deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas nach 1945

Peter Hilkes (München): Die Ukrainische Freie Universität in München und ihr Stellenwert in der Osteuropa- und Ukraineforschung. Entwicklung und Einblicke aus aktueller Sicht

Anmerkungen:
1 Inwieweit es sich tatsächlich um ein ost- oder eher ostmitteleuropäisches München handelt, wurde auch im Lauf der Tagung schon kritisch reflektiert.
2 Zur Konferenz von 1995 siehe u.a. Elisabeth-Eva Fischer, Eine Fußnote der Geschichtsschreibung. Die erste internationale Konferenz über jüdische Displaced Persons 1945-1949 in München. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.07.1995, S. 9.

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